Woher ich komme - 
Die Geschichte meines Heimatdorfes

Die Geschichte meines Heimatdorfes Giesen im Landkreis Hildesheim in Niedersachsen. 

Der Kaliberg, das Wahrzeichen der Ortschaft Giesen.

Geografisch liegt mein Heimatort am Giesener Wald, der den nördlichen Ausläufer des Innersteberglandes bildet. Südlich schließt der Hildesheimer Wald an. Die übergeordnete Landschaft ist das Weser-Leine-Bergland. 


Zwischen dem Giesener Wald und dem Hildesheimer Wald sind die Giesener Teiche. Es sind nur noch kleine Tümpel. Als Kinder konnten wir noch im oberen Teich baden. Noch früher, so erzählte uns mein Vater, hatten die Teiche so viel Wasser, dass ein Fischerkahn darauf war. Aufgestaut wurden die Teiche im 18. Jahrhundert vom bischöflichen Gut Steuerwald für die Fischzucht. Heute sind die Giesener Teiche und die Umgebung ein Naturschutzgebiet.

 

Der Giesener Dreisch und der angrenzende Osterberg waren von 1937 bis 2007 ein militärischer Übungsplatz für die die Hildesheimer Garnisonen.

 

Ein Dreisch ist eine grasbewachsene, ungenutzte Fläche. Der Giesener Dreisch ist eine alte Hutelandschaft (Weidefläche), die als Allmende (gemeinschaftlich genutztes Dorfeigentum) von den angrenzenden Dörfern Himmelsthür, Emmerke und Groß Giesen genutzt wurde. Teile gehörten auch dem Gut Steuerwald.

 

Danach wurde der Platz ein Naturschutzgebiet. Die am Osterberg gebauten Munitionsbunker hat die Paul-Feindt-Stiftung erworben und Fledermausquartiere angelegt.

 

Die Paul-Feindt-Stiftung wurde 1989 vom Ornithologischen Verein Hildesheim gegründet. Paul Feindt war Lehrer am Hildesheimer Gymnasium Josephinum und Gründer des Ornithologischen Vereins Hildesheim.

 

Der Osterberg besteht bis an die Oberfläche aus Muschelkalk, der vor 200 bis 240 Millionen Jahren aus Korallen und Muscheln entstand. Als Kind haben wir dort viele verkalkte Schachtelhalme gefunden, seltener Versteinerungen.

Am Kirschenberg, ein Teil des Osterbergs, waren zu meiner Jugendzeit aufgegebene Steinbrüche. Wir waren immer im frühen Frühjahr dort, um Huflattich (für Tee) zu sammeln. Auf den Streuobstwiesen neben den Steinbrüchen wuchsen Himmelschlüssel-Blumen.

 

Entstanden sind die Steinbrüche, als Ende des 18. Jahrhunderts die Landstraße von Hannover nach Hildesheim ausgebaut wurde. Die Schottersteine kamen vom Osterberg. Vor Jahren wurden die Steinbrüche zugeschüttet.

 

Zwischen Klein Giesen und Himmelsthür, am Sülteweg, war in Höhe der Giesener Teiche die „Christushöhle“.

 

Der Sülteweg war der Verbindungsweg von Giesen zum Sültekloster in Hildesheim. Bischof Godehard gründete 1025 vor den Toren der Stadt eine Kapelle und ein Pilgerhospital, das Bartholomäusstift. Später wurde es ein Augustiner-Kloster.


Über die Gründung der Kapelle wird berichtet, dass der Ort bei der „Sulza“-Quelle ein „pallus horrifica“ sei, wo fürchterliche Erscheinungen zu sehen und zu hören seien, denen Bischof Godehard mit dem Kreuze ein Ende setzte. Wahrscheinlich war hier ein heidnischer Kultort, der durch die Kapelle christlich vereinnahmt wurde.

 

Im Zuge der Säkularisierung wurde das Kloster 1803 aufgehoben. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auf dem Klostergelände eine Heil- und Pflegeanstalt eröffnet. „Du gehörst in die Sülte“ war in meiner Jugend ein gängiger Spruch, wenn man sich über jemanden geärgert hatte. Heute ist dort ein Hotel.

 

Der Name „Sülte“ (lateinisch „Sulza“) bezeichnete eine Salzquelle. Ob die Quelle tatsächlich eine Salzquelle war, ist zu bezweifeln. Denn bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Quelle große Bedeutung für die Wasserversorgung Hildesheims. Das Wasser wurde in einem Graben in die Stadt geleitet und  trieb um 1400 am nahegelegenen Ostertor und Almstor Mühlen an. Am Ostertor bestand eine Wasserkunst (Pumpwerk und Speicher) von der aus mehrere Stadtbrunnen gespeist wurden, so auch der Marktbrunnen vor dem Rathaus.

 

In der Höhle am Sülteweg wurde in früheren Zeiten weißer Streusand abgegraben, der vom Klein Giesener „Sandjer“ verkauft wurde. Damals wurden die Holzfußböden noch gescheuert und sonntags mit dem weißen Sand bestreut.

Die entstandene Höhle diente vor 1900 dem Einsiedler Christian Müller aus Hoheneggelsen, genannt „Christus“, als Behausung. Daher der Name.

Als Kind war ich noch in der Höhle, die ich eher als eine Ausbuchtung im Hang in Erinnerung habe. Heute ist sie nicht mehr vorhanden.

 

Einen Steinbruch gab es in der Beelter Feldmark westlich von Giesen. Dort wurde eine Art Tuffstein (?) abgebaut. In vielen Vorgärten konnte man Bruchstücke davon als Wegbegrenzungen sehen. Wahrscheinlich wurde der Tuffstein als Baumaterial verwandt, genaues weiß ich aber nicht. Heute ist die Stelle in der Feldmark nicht mehr zu erkennen. Die Grube wurde verfüllt und mit Erde abgedeckt.

 

Giesen liegt am linken Ufer der Innerste, die im Oberharz bei Clausthal-Zellerfeld entspringt und bei Ruthe in die Leine mündet.

Früher wurde der Ortsrand von Klein Giesen regelmäßig vom Frühjahrshochwasser überflutet. 1936 bis 1938 wurde der Flusslauf begradigt, so dass Überschwemmungen selten geworden sind. Das ist insofern gut, weil das Wasser der Innerste mit Schwermetallen belastet sein kann. Die kommen aus den Abraumhalden des Erzbergbaus im Harz.

Aufgewachsen bin ich in Klein und Groß Giesen. Eingeschult wurde ich noch in der Klein Giesener Schule. Kurz danach sind meine Eltern in ein Siedlungshaus in Groß Giesen gezogen. Die Arbeitsstätte meines Vaters hatten wir da immer im Blick, das Kaliwerk, und die mal weiße (bei schönem Wetter) und mal graue (bei Regenwetter) Abraumhalde, der „Giesener Kilimandscharo“. Der Giesener Wald, an dessen Rand die Siedlung gebaut wurde, war mein und meiner Freunde Spielplatz. Dass wir, wenn wir weiter in den Wald vorgedrungen sind, auf Gräbern herumtrampelten, wusste ich damals noch nicht.

  

Frühe Besiedlung

Im Giesener Wald bezeugen zahlreiche Hügelgräber eine frühe Besiedlung. Die Gräber stammen aus der Bronzezeit (1700 bis 700 v.Chr.). Es handelt sich um Körperbestattungen in Baumsärgen (aus der frühen Bronzezeit) und (in der Mehrzahl) um Urnengräber (aus der jüngeren Bronzezeit).  Das kann aus Ausgrabungen Anfang des 20. Jahrhunderts geschlossen werden (wahrscheinlich wurden 10 der 46 oder 43 Hügelgräber geöffnet).

Als Bronzezeit wird die Epoche bezeichnet, weil in der Zeit Metallgegenstände aus Bronze hergestellt wurden. Durch die Beimengung von Zinn (1 Teil) wird Kupfer (9 Teile) ein hartes Metall. Zinn gab es in der Bronzezeit im Erzgebirge. Kupfer wurde im Mansfelder Land (Mitteldeutschland), am Rammelsberg im Harz und in Niederschlesien abgebaut.

Aus Bronze wurden Werkzeuge und Waffen (Schwerter) hergestellt. Die Urnen der Bronzezeit waren aus Ton.

Wo Gräber sind, war auch eine Siedlung. Wo in Giesen eine bronzezeitliche Siedlung war, ist schwer zu sagen, da bisher keine Siedlungsspuren der Bronzezeit gefunden wurden (in Einum bei Hildesheim wurden 2008 Reste eines Gebäudes und Brunnens aus der Bronzezeit entdeckt).

Funde aus der Bronzezeit im Hildesheimer Raum lassen den Schluss zu, dass die Besiedlung durch Zuwanderung einer Aunjetitzer Gruppe aus dem Osten (zur Indogermanischen Sprachgruppe gehörend) erfolgte. Deren Verbreitungsgebiet war von Thüringen bis Niederösterreich. Die Himmelsscheibe von Nebra (Sachsen-Anhalt) wird der Kulturgruppe zugerechnet.

Für die Zeit zwischen der Bronzezeit und der Christianisierung gibt es für das Giesener Gebiet keine Belege. Auch aus der römischen Zeit ist nichts bekannt. Erst nach der Eroberung des sächsischen Siedlungsgebietes beginnen Geschichts-Aufzeichnungen. Vermutet wird, dass die Siedlungen an der Innerste schon vor dem Jahr 800 bestanden, also vor der fränkischen Eroberung.

Das sächsische Siedlungsgebiet der germanischen Stämme war ungefähr das Gebiet des heutigen Niedersachsens und das nördliche Nordrhein-Westfalen.

Das Römische Reich bezeichnete die Gebiete jenseits ihrer Grenzen, östlich des Rheins und nördlich der Donau, als Germania magna. Versuche der Römer, auch dieses Gebiet zu erobern, scheiterten. Beispiele sind die Varusschlacht im Jahr 9 n.Chr. im Teutoburger Wald und die Schlachten am westlichen Harzrand um 235/236 n.Chr..

Erobert wurde das sächsische Gebiet im Sachsenkrieg durch Karl den Großen 772 bis 804 n.Chr. .

 

Das römische Reich war untergegangen. Das Frankenreich (etwa Frankreich, Süddeutschland und Oberitalien) war in der Nachfolge entstanden. Karl der Große war ab 771 Alleinherrscher und ließ sich im Jahr 800 in Rom vom Papst zum römischen Kaiser krönen.

 

Ob Karl der Große den Sachsenkrieg zur Missionierung der heidnischen Sachsen oder zur Ausweitung seines Reiches führte, ist wohl nicht eindeutig zu beantworten. Wahrscheinlich wollte er beides. Vorausgegangen waren schon vorher Grenzauseinandersetzungen und Überfälle sächsischer Stämme auf fränkisches Gebiet.

 

Nach der Unterwerfung des (westfälischen) Sachsenführers Widukind gliederte Karl der Große das Sächsische Reich in das Frankenreich ein.

Das eroberte Siedlungsgebiet der Sachsen wurde das Stammesherzogtum Sachsen. Ob vorher schon ein zusammenhängendes sächsisches Herzogtum bestand, ist umstritten. In den Kämpfen gegen Karl den Großen hatten Teilgebiete jeweils eigene Heerführer, in Engern (zwischen West- und Ostfalen, etwa beiderseits der Weser, einschließlich des westlichen Holstein), in Westfalen (Münsterland, mittlere Ruhr, Sauerland) und in Ostfalen (zwischen Weser und Elbe).


Zum Stammesherzogtum Sachsen siehe im Internet-Blog „Sattel und Schuh“, im Bericht über die Radreise von Berlin nach Verona, die Abhandlung zur Geschichte Sachsens: 🔄 Radreise Verona - Geschiche


   

Das Dorf im Bistum Hildesheim

Um 800 gründete Karl der Große, noch vor Ende des Sachsenkrieges, am Übergang des Hellwegs über die Leine (Verbindungsweg zwischen Rhein und Elbe) einen befestigten Ort und eine Kirche als Stützpunkt für einen Missionsbischof. Die Kirche ist die Vorgängerkirche der heutigen Paulus-und-Petrus-Kirche in Elze bei Hildesheim.

Karl der Große soll die Kirche in Elze als Bischofssitz für ein Bistum Ostfalen vorgesehen haben. Sein Sohn Ludwig der Fromme gründete dann das Bistum 815 mit Sitz in Hildesheim.

 

In einem Lexikon des Mittelalters wird der Name des Bischofssitzes mit „Hilduinesheim“ angegeben, der auf den Namen des Abtes von St. Denis, Hilduin, zurückgehen soll. Der war ein Berater Ludwig des Frommen. 

Erster Bischof war Gunthar aus Reims in Frankreich (815 bis 835). Unter Bischof Alfried (851 bis 874) entstand der Hildesheimer Dom, dessen Grundriss bis heute beibehalten wurde. Bedeutende Bischöfe waren Bernward (993 bis 1022) und Godehard (1022 bis 1038).

Bischof Hezilo, der unten im Zusammenhang mit Giesen und Gr. Förste erwähnt wird, war von 1054 bis 1079 Bischof. Er ließ den nach einem Brand zerstörten Dom an gleicher Stelle wieder aufbauen. 

1235 erreichte Bischof Konrad II. die Erhebung des Bistums zu einem Fürstbistum (Hochstift).

 

Seit Kaiser Otto I. (962 bis 973 römisch-deutscher Kaiser) konnten Bischöfe mit weltlicher Macht ausgestattet werden. Sie wurden in den Reichsfürstenstand erhoben, mussten dafür Reichsdienste leisten (u.a. Kontingente für das Reichsheer stellen), waren aber reichsunmittelbar (unterstanden nur dem Kaiser), nahmen an den Reichstagen teil und hatten die hohe Gerichtsbarkeit. 

Das Fürstbistum Hildesheim (auch: Hochstift Hildesheim) umfasste den größten Teil, aber nicht das gesamte geistliche Bistum. Zum Hochstift gehörte die Hildesheimer Börde und damit auch das Dorf Giesen (die Unterscheidung in Groß und Klein Giesen beginnt erst ab etwa des 14. Jahrhunderts). 


Zwischen 1310 und 1350 wurden die Wasserburgen Steuerwald und Marienburg als sichere Rückzugsorte der Bischöfe gebaut. 

Eine Urkunde von 1068 bestimmte, dass der Zehnt aus dem Dorf Giesen an das Moritzstift in Hildesheim gehen soll. Im gleichen Jahr übertrug der Hildesheimer Bischof Hezilo von Hildesheim dem Moritzstift umfangreichen Grundbesitz in Groß Förste.

Die Abgabe des Zehnten wurde für das Frankenreich 779 in einem Reichsgesetz zur Finanzierung der fränkischen Kirche bestimmt. Von dem Zehnten erhielt der Pfarrer ein Drittel. Zwei Drittel gingen an den Bischof.

Der Zehnt war eine Abgabe in Naturalien in einer festen Größe, die zwischen 10 % und 30 % der Ernte ausmachen konnte.

Später (im 14. Jahrhundert) hatten auch andere Hildesheimer Klöster (St. Michael und St. Godehard) und Stifte (Chorherrenstift zum Heiligen Kreuz der Heilig-Kreuz-Kirche,  Chorherrenstift Bartholomäus der Klosterkirche des Sülteklosters) Grundbesitz in Giesen.

 

Unterschiedliche Schreibweise für Giesen

Die Schreibweise des Namens Giesen änderte sich mehrmals (zwischen 1146 und 1193): Gesim, Gesen, Jesen. Ein Namensforscher deutet den Namen als das Niederdeutsche „Stelle am schäumenden Wasser“. Vielleicht war die Innerste einmal ein rauschender Bach.

 

Wem gehörte das Dorf

Dass im Gebiet der Dörfer Groß und Klein Giesen schon eine sächsische Besiedlung war, wird angenommen (vermutet wird eine Besiedlung sogar schon ab 300 n.Ch.). Sind die Menschen und Häuser geblieben, als das Heer Karls des Großen das Hildesheimer Land unterwarf? Wem gehörte das Land nach der Eroberung?

Erobertes Land gehörte dem Eroberer. So war das auch im eroberten Sachsenland. Karl der Große gliederte das Stammesherzogtum Sachsen in sein Reich ein.  Er vergab das Land als Lehen oder verschenkte es an Adlige (meistens waren das Franken) und an die Kirche (Bistümer und Klöster). 


Der Bischof von Hildesheim wird in größerem Umfang über Land verfügt haben, um die Kirchen und Klöster zu unterhalten.

 

Neben dem Bischof bildeten die Domherren (auch: Domkapitulare) eine Gemeinschaft von Priestern, die für den Gottesdienst im Dom zuständig waren, den Bischof bei der Verwaltung der Diözese unterstützen und an der Bischofswahl beteiligt waren. Als Gemeinschaft bildeten sie das Domstift (auch: Domkapitel). An der Spitze stand der Domprobst. Die dem Domkapitel gehörenden Ländereien und Dörfer bildeten die Dompropstei.

Im Laufe der Zeit wurde das Domstift vom Bischofsstuhl unabhängig, bestand neben ihm und hatte eigenen Besitz und Regalien (Hoheitsrechte: Gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt).

 

Zur Versorgung der Domherren hatte das Domstift schon um 900 etwa ein Drittel des bischöflichen Besitzes bekommen. 1182 übertrug Bischof Adelog die Grundherrschaften Itzum und Hasede dem Dompropst. Das Gebiet Losebeck (dort wurde später die Hildesheimer Neustadt gegründet), sowie die Dörfer des Borsumer Kaspel (u.a. Borsum, Algermissen, Adlum, Hönnersum) gehörten dem Domstift.

 

Der Versorgung der bischöflichen bzw. fürstbischöflichen Residenz dienten die Ämter Steuerwald und Marienburg, die auf die Bischofsburgen zurückgingen. Zum Amt Steuerwald gehörten Groß und Klein Giesen.

Das eroberte Land gliederte Karl der Große in Grafschaften bzw. Gaue, die sich an der Struktur der vormaligen sächsischen Gebietsgliederung ausrichteten. Die Grafen waren als seine Stellvertreter Richter, Steuereintreiber und Militärbefehlshaber. Im Gebiet des Bistums Hildesheim gab es 17 Grafschaften oder Gaue (aus dieser Zeit hat sich der Landschaftsname Ambergau – Bockenem, Wohlenberg, Seesen – erhalten) Einer der Gaue war die Gaugrafschaft Astfala. Sie umfasste den Raum um Hildesheim bis Ruthe und Peine und damit auch Giesen. 


1012 bis 1037 erhielt der Bruder des Hildesheimer Bischofs Bernward, Tammo, die Gaugrafschaft Astfala als Lehen. Bernward und Tammo waren Söhne des Grafen Dietrich von Sachsen.

In den Grafschaften wurden Grundherrschaften gebildet. Die Grundherren waren Adlige, Klöster oder Bischöfe. Grundherrschaften bestanden aus einem Herrenhof (manchmal auch mehreren) mit selbst bewirtschaftetem Landbesitz und darum herum kleinen Bauernstellen, die ihr Land vom Herrenhof erhielten. Die Bauern waren hörig und durften ohne Genehmigung des Grundherrn nicht aus der Grundherrschaft ausscheiden. Sie mussten einen Pachtzins zahlen (neben dem Zehnten), waren zu Arbeitsleistungen (Frondienste) für den Herrenhof (darum auch Fronhof genannt) verpflichtet und unterlagen der Gerichtsbarkeit ihres Herrn.

Wappen Groß Giesen
Für Giesen werden in Urkunden mehrere Grundherren genannt. Einer war ein Etelgerus de Gesim, der in Urkunden des 12. Jahrhunderts erwähnt wird. Im 15. Jahrhundert soll das Geschlecht erloschen sein. Auf dessen Siegel geht das Wappen der Gemeinde Groß Giesen (Balken und Nägel) zurück.

Das Wappen der Gemeinde Klein Giesen hat das Siegel des Cord von Beelte aus dem Jahr 1441 (?) aufgenommen (Balken und Lilien).

Dietrich von Deppenau hat 1235 die von ihm errichtete Kirche auf seinem Herrenhof dem Godehardkloster in Hildesheim übertragen (s.u.).

Die Brüder Dietrich und Curd von Lenthe erwarben 1590 das Grundeigentum der Witwe eines Tile von Barner, zu dem Grundbesitz in Groß- und Klein Giesen gehörte. Nachfahren (?) der von Lenthe
Wappen Klein Giesen
 wohnen heute in Heinde (Bad  Salzdetfurth).

 

Katharina Schrader hat 1997 die Geschichte der Bauernhöfe in Groß und Klein Giesen aufgeschrieben  („Die Bauern von Giesen“).

Der Herrenhof des Dietrich von Depenau in Groß Giesen (mit der Dorfkirche) ist heute der Hof von Heinrich Engelke hinter der Kirche.

Ein Bauernhof der von Lenthe bestand auf dem heutigen Hof von Lorenz Engelke in der Breiten Straße in Groß Giesen.

Ein Hof der Grundherrschaft von Nübel war der heutige Hof Heinrich Schrader in der Breiten Straße in Groß Giesen.

Der heutige Hof von Alois Beike in der Südstraße in Klein Giesen gehörte zu der Grundherrschaft des Etelgerus von Gesim. Er überließ (schenkte? verkaufte?) den Hof dem Michaeliskloster in Hildesheim, das ihn „vermeierte“ (verpachtete).

 

Zu meiner Zeit gab es nur noch einen Adligen in Giesen. Ein Arthur von Morgenstern hatte eine Bäckerei mit einem Eissalon (1950er Jahre) an der Hauptstraße in Klein Giesen (heute Rathausstraße). Ob er ansässig oder zugezogen war, weiß ich nicht.

Die Abhängigkeit der Bauern von der Gutsherrschaft wurde im 19. Jahrhundert aufgehoben. Im Königreich Hannover und damit auch für die Groß und Klein Giesener Bauern wurden die Grundlasten (Abgaben und Frondienste) der Bauern durch die Ackerreformgesetze 1831/1833 und 1842 abgeschafft. 


1833 führte der König von Hannover, Wilhelm IV., zugleich König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, ein liberales Staatsgrundgesetz ein. Vorausgegangen waren Unruhen in Göttingen, wo Professoren und Studenten nach dem Vorbild der französischen Revolution von 1830 eine demokratische und liberale Verfassung forderten.

 

Als König Wilhelms IV. 1837 starb, wurde Viktoria, Enkelin Georg III., Königin von Großbritannien und Irland. Königin von Hannover konnte sie nicht werden, da im hannoverschen Königshause nur die männliche Thronfolge möglich war. Ernst August I. aus einer welfischen Nebenlinie wurde König von Hannover. Die Personalunion der beiden Königreiche war beendet.

 

Ernst August I. schaffte bei seinem Amtsantritt das liberale Staatsgrundgesetz wieder ab und regierte nach der absolutistischen Verfassung von 1818. Sieben Professoren der Göttinger Universität protestierten dagegen (die „Göttinger Sieben“). Die Professoren wurden entlassen und drei von ihnen, die Gebrüder Grimm und der Historiker Dahlmann, des Landes verwiesen.

 

Kirche St. Vitus in Groß Giesen

Wann die Kirche gebaut wurde, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Da sie dem Hl. Veit/St. Vitus gewidmet ist, wurde sie frühestens Ende des 9. Jahrhunderts gebaut. In der Zeit begann im Bistum Hildesheim die Verehrung des Heiligen Veit (304 in Rom ermordet), nachdem eine Reliquie zum Kloster Corvey kam (Benediktinerabtei und Fürstabtei an der Weser bei Höxter). 1227 muss es die Kirche gegeben haben, da für das Jahr ein Pfarrer urkundlich genannt wird.  

Die Groß Giesener Kirche war eine Eigenkirche (der Grundherr bestimmte den Pfarrer) der Grundherrschaft des Adligen von Depenau. Sie unterstand nicht der Aufsicht des Archidiakonats (Untergliederung des Bistums) der St. Pankratius Kirche in Groß Förste.

1235 übertrug der Ritter von Depenau das Patronatsrecht (Recht die Pfarrstelle zu besetzen) dem Godehardikloster der Benediktiner.             

1424 wurde die Kirche St. Vitus dem Godehardikloster inkorporiert (einverleibt). Dazu bedurfte es der päpstlichen Zustimmung. Hintergrund waren wirtschaftliche Schwierigkeiten des Klosters, das mit der Kirche auch deren Besitz und Pfründe (Abgabe des Zehnten) erhielt. Die Gemeinde muss wirtschaftlich interessant gewesen sein. Die Kirche wurde fortan von Mönchen des Klosters betreut. 

Nach der Hildesheimer Stiftsfehde (1519 bis 1523) blieb Giesen bischöflich, d.h. beim Hildesheimer Hochstift, mit dem Amt Steuerwald. Ebenso blieben das Amt Marienburg und die Stadt Hildesheim sowie die Dörfer Harsum, Borsum, Achtum und Algermissen bei dem verkleinerten Hochstift. 


Die Hildesheimer Stiftsfehde begann als eine Auseinandersetzung des Bischofs mit Adligen im Gebiet des Hochstiftes. Der Fürstbischof verlangte die Herausgabe von verpfändeten Gütern, was für die adligen Lehensnehmer einen Einnahmeverlust bedeutete, gegen den sie sich wehrten. 

Durch das Eingreifen des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel bekam der Streit eine andere Dimension. Dem Herzog ging es darum, sein Territorium zu vergrößern. Am Ende verlor das Hochstift umfangreiche Gebiete und seine politische Bedeutung. 

In der Zeit des Bischofs Friedrich von Dänemark (auch als Friedrich von Holstein bzw. von Schleswig-Holstein bezeichnet) wurden die Pfarrstellen im Amt Steuerwald mit evangelischen Pfarrern besetzt, so auch in Groß Giesen. 


Vor und während der Reformation (1542 predigte Bugenhagen in Hildesheim) waren die Hildesheimer Bischofstühle schwach besetzt.

- Bischof Baltasar Merklin (1528 bis 1531) war parallel auch Bischof von Konstanz. In beiden Bistümern war er fast nie anwesend.

- Graf Otto IV. von Holstein-Schaumburg (1531 bis 1537) erhielt schon als Kind die Stelle eines Domherrn in Hildesheim und Köln. 1531 wurde er Fürstbischof, ohne zum Priester geweiht zu sein. 1537 trat er zurück, behielt aber das Amt eines Domherrn bis 1541 (wegen der Einnahmen, die er daraus bezog).

- Bischof Valentin von Teutleben (1537 bis 1551) fand ein Hochstift vor, dessen Ämter verpfändet waren.

- Friedrich von Dänemark (1551 bis 1556) wurde als jüngerer Bruder des dänischen Königs standesgemäß mit dem Hildesheimer Fürstentitel versorgt. Er wurde postuliert (eingesetzt), aber als Protestant nicht konsekriert (geweiht).

Dies blieb auch zunächst so, als nach Friedrich von Dänemark wieder ein katholischer Bischof residierte (Burchard von Ober, 1557 bis 1573). Das Amt Steuerwald war an den Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf verpfändet, der damit das Sagen hatte und als evangelischer Fürst eine reformatorische Kirchenordnung einführte. Das änderte sich erst, als Bischof Burchard 1564 das Amt Steuerwald wieder aus der Verpfändung auslösen konnte und danach das gesamte Amt Steuerwald (bis auf Barnten und Giften) rekatholisierte. 

Im Dreißigjährigen Krieg wurden die westlich von Groß Giesen gelegenen Nachbardörfer Groß und Klein Beelte verwüstet. Die überlebenden Einwohner flüchteten nach Groß Giesen. Die Dörfer blieben eine Wüstung. Zur Erinnerung an die beiden Kirchen übernahm die St. Vitus Kirche 1929 deren Patrozinien (Schutzheilige) St. Nikolaus und St. Bernward als Nebenpatrone. 

Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden 1648 die Religionsverhältnisse im Westfälischen Frieden geregelt. Die drei im Reich anerkannten Religionen der Katholiken, Lutheraner und Reformierte, sollten künftig in den Gebieten maßgeblich sein, in denen sie im Jahr 1624 ausgeübt wurden (das war das sog. Normaljahr). Entsprechend wurden die Kirchen, Klöster und Stifte den Religionen zugeordnet.

Der Dom und mehrere Klosterkirchen in Hildesheim blieben katholisch sowie einige Dörfer, die sog. Stiftsdörfer. Das waren Algermissen, Bettmar, Borsum, Harsum, Ottbergen, Dethfurt, Diekolzen, Dinklar, Groß und Klein Förste, Groß und Klein Giesen Die übrigen Dörfer müssen wohl evangelisch geblieben sein (? - 90 % der Bevölkerung war evangelisch, s.u.)


Zuvor war 1643 das nach der Stiftsfehde verloren gegangene Gebiet des Hochstifts Hildesheim mit dem Rezess von Goslar wieder dem Fürstbistum zurückgegeben worden. Das „große Stift“ war wiederhergestellt worden (das nach der Stiftsfehde verbliebene Stiftsgebiet wurde als „kleines Stift“ bezeichnet). Das änderte aber an der Konfession nichts. 90 % der Bevölkerung des katholischen Hochstifts blieben evangelisch. 

Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde das Kirchengebäude St. Vitus in den Jahren 1672 bis 1675 neu errichtet. Wahrscheinlich war die Kirche im Krieg stark beschädigt worden. 

Mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurde 1802 das Hochstift bzw. Fürstbistum Hildesheim säkularisiert und Preußen zugeschlagen. 
      

Das geistliche Bistum blieb erhalten. Seine Grenzen wurden später in einem Vertrag zwischen dem Königreich Hannover und dem Papst 1824 neu festgelegt (Zirkumskriptionsbulle). 

Nach kurzer französischer Zeit unter Napoleon kam das Gebiet des ehemaligen Hochstifts (und damit auch Groß und Klein Giesen) zum Königreich Hannover (Ergebnis des Wiener Kongresses 1814/1815) und nach der Annektierung des Königreichs durch Preußen zum Königreich Preußen (Ergebnis des Deutsch-Deutschen Krieges 1866). 


Die Klöster des ehemaligen Hochstifts wurden in der hannoverschen Zeit der Klosterkammer Hannover übergeben. Die war vom Königreich Hannover nach der Säkularisierung der dortigen Klöster und Stifte gegründet worden. Die Klosterkammer bestand als Sondervermögen auch in Preußen weiter.

 

 Kirche St. Martin in Klein Giesen

Der Bau der St. Martin Kirche wird auf das 13. Jahrhundert datiert. 


Neben der Kirche ist ein Thingstein. In der Zeit des Frankenreiches wurden die Kirchen oft an traditionellen Thingplätzen der Sachsen gebaut. Es kann darum gut sein, dass es den Thingplatz schon vor der fränkischen Eroberung gab. Das würde bedeuten, dass der ursprüngliche Mittelpunkt Giesens der Thingplatz in Klein Giesen war. Groß Giesen ist dann als neue Siedlung fränkischer Siedler neben der sächsischen Siedlung gegründet worden?

 

Jedenfalls wurde in fränkischer Zeit am Thingstein in Klein Giesen Recht gesprochen. Die Franken hatten die Go-Gerichte. Die hatten die niedere Gerichtsbarkeit für die nicht von den Grundherrschaften abhängigen „Freidingshöfe“, für die „Freimänner“, die freien Bauern. In Groß und Klein Giesen gab es eine Reihe von Freidingshöfen.

Der Thingplatz in Klein Giesen war der Gerichtsplatz für den Go- Gerichtsbezirk „Güldene Winkel“ im Amt Steuerwald. Zu dem Go-Bezirk gehörten die heutigen Gemeinden Himmelsthür, Sorsum, Groß und Klein Escherde, Barnten, Rössing, Emmerke, Groß und Klein Beelte, Groß und Klein Giesen. Die Freimänner aus all diesen Orten mussten regelmäßig zu den Thinggerichten nach Klein Giesen kommen. 

Im Gegensatz zur St. Vitus Kirche, die eine Pfarrstelle hatte, wurde St. Martin vom Pfarrer der Groß Förster Pankratius Kirche betreut. Zum Gottesdienst mussten die Klein Giesener sonntags in die Kirche in Groß Förste gehen. Sie gehörten zur Pfarrgemeinde Groß Förste. Das war auch im 17. Jahrhundert noch so. 1660 erhielten die Klein Giesener Gläubigen zwar vom Bischof die Erlaubnis, die nähere Groß Giesener Kirche zu besuchen. Das schlugen die Klein Giesener aber aus. Was hatten sie gegen die Groß Giesener? Ein alte Konflikt schon damals? 

1940 wurde St. Martin von der Groß Förster Kirchengemeinde nach Groß Giesen zur St. Vitus Kirche „umgepfarrt“. Die Dörfer waren im Laufe der Zeit zusammengewachsen. Die Gemeindegrenze war durch die herangewachsenen Bebauungen nicht mehr zu erkennen. St. Martin wurde Pfarrvikarie und bekam einen Vikar (Vikare sind einem Pfarrer unterstellt). 

Heute gehört St. Martin als Filialkirche zur Pfarrgemeinde St. Vitus, zu der auch die Kirchen St. Pankratius  in Groß Förste, St. Johannes Batist in Klein Förste, St. Andreas in Hasede, St. Maria und St. Peter und Paul in Ahrbergen gehören.


Neben der Kirche steht das Elternhaus meines Vaters. Meine Großmutter war eine geborene Bode. Sie hatte das Haus von ihren Eltern geerbt. Ihr Vater (mein Urgroßvater) war der Köthner Franz Bode (Köthner bedeutet, dass er eine Kathe, das Haus neben der Kirche, besaß).

 

Die politische Gemeinde

Die Unterscheidung von Groß Giesen und Klein Giesen gab es etwa ab dem 14. Jahrhundert.   


Kommt die Unterscheidung durch die getrennten Kirchen? Oder gab es zwei dominierende Herrenhöfe, die ihre Ländereien und abhängigen Bauern voneinander abgrenzten? Man weiß es nicht. 

1974 wurden die beiden Gemeinden nach langer Diskussion zu einer Ortschaft zusammengelegt. 


Ich erinnere mich noch daran. Ab 1972 war ich (ich studierte schon in Göttingen, war aber noch Ortsvorsitzender der Jungen Union) Mitglied im Gemeinderat von Groß Giesen.

Die Gemeinde Groß Giesen hatte davor 1971 mit Klein Giesen, Ahrbergen, Hasede und Groß Förste eine Samtgemeinde gebildet. Bis dahin hatte Groß Giesen einen ehrenamtlichen Gemeindedirektor, den Landwirt Heinrich Aue. Bürgermeister war Landwirt Franz Nave. Mit der Bildung der Samtgemeinde wurde Günter Helmsen hauptamtlicher Gemeindedirektor, der zuvor Leiter des Sozialamtes im Landkreis war.

 

Im Gemeinderat von Groß Giesen kam es 1972 nach der Ratswahl zu einem Wechsel des Bürgermeisters von Groß Giesen. Der Leiter der Spar- und Darlehenskasse hatte in der CDU-Fraktion eine „Revolution“ gegen Franz Nave angezettelt. Die Bauern sollten nicht mehr das Sagen in der Gemeinde haben. Maurermeister Erich Rössig sollte es werden. Und ich war als frisch gewählter Ratsherr mittendrin. Der Kompromiss war dann Ferdinand Rössig (nicht verwandt mit dem Maurermeister Rössig), der im Kaliwerk Giesen angestellt war, der von der CDU-Fraktion vorgeschlagen und vom Gemeinderat gewählt wurde. Ich wurde damals Vorsitzender des Finanzausschusses. 

1974 haben sich Groß und Klein Giesen gleichzeitig mit der Bildung der Einheitsgemeinde freiwillig zu einer Ortschaft zusammengeschlossen. Nach einer sehr kontroversen Diskussion. Einige Klein Giesener Bauern wehrten sich vehement. Als in Klein und Groß Giesen aufgewachsener habe ich die Zusammenlegung natürlich befürwortet. 

Die Einheitsgemeinde wurde durch die Gebietsreform mit den bisherigen Samtgemeinde-Gemeinden und Emmerke (davor Samtgemeinde Güldener Winkel) gebildet. Gemeindedirektor wurde Klaus Kreye,  der bis dahin Leiter der Kämmerei des Landkreises Hildesheim war. Bürgermeister wurde Arnold Beelte aus Emmerke. 

Mit der Neuwahl des Gemeinderates 1999 wurde dann in Giesen die sog. Eingleisigkeit eingeführt. Der gewählte Bürgermeister ist auch hauptberuflicher Leiter der Gemeindeverwaltung. Einen Gemeindedirektor neben dem Bürgermeister gibt es nicht mehr. Erster hauptamtlicher Bürgermeister wurde Ferdinand Rössig. Seit 2006 ist Andreas Lücke Bürgermeister. 


Ich fand und finde die bis 1996 geltende Gemeindeverfassung, die Norddeutsche Ratsverfassung, nach britischem Vorbild (nach dem Krieg von der britischen Besatzungsmacht für Niedersachsen und Nordrheinwestfalen bestimmt) für besser als die jetzt geltende Süddeutsche Bürgermeisterverfassung (die im 19. Jahrhundert im Königreich Bayern, dem Königreich Württemberg und dem Großherzogtum Baden entstanden ist).

 

Bei der Norddeutschen Ratsverfassung waren Rat und Verwaltung getrennt (Zweigleisigkeit). Der Gemeinde- oder Stadtrat wählte den Bürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Gemeinde. Die Verwaltungsgeschäfte wurden von dem Gemeinde- oder Stadtdirektor wahrgenommen, der vom Rat für bestimmte Zeit gewählt wurrde. In größeren Städten war der Hauptverwaltungsbeamte der Oberstadtdirektor. An seiner Seite standen die hauptamtlichen Stadträte, die ebenfalls auf Zeit (zwischen 4 und 12 Jahre) vom Rat gewählt wurden.

 

Nach diesem Modell war ich in Salzgitter 1988 für 12 Jahre als Stadtrat gewählt worden. 1993 bin ich dann allerdings als Geschäftsführer in die städtische Wohnungsbaugesellschaft gewechselt. Die anstehende Änderung der Niedersächsischen Gemeindeverfassung war ein Grund dafür (nicht der alleinige). 

Bei der jetzt in Niedersachsen und fast in allen Bundesländern geltenden Bürgermeisterverfassung ist der Bürgermeister Chef der Verwaltung und Vertreter der Gemeinde. Er wird direkt von den Bürgern gewählt. Der vom Rat gewählte Vorsitzende des Gemeinderates ist eher unbedeutend. Eine sachliche Konzentration auf die Verwaltungsaufgaben ist nicht mehr gegeben. 



Die Bevölkerung und Wirtschaft des Dorfes

Die Gemeinde liegt im Gebiet des Hildesheimer Lössbodens mit hohen Bodenwertzahlen. Entsprechend hoch waren und sind die landwirtschaftlichen Erträge.

 

Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Groß Giesen:

2 Ackermänner oder Vollspänner: Sie bewirtschafteten wenigsten 4 Hufe (1 Hufe etwa 30 Morgen Ackerland. 1 Hufe konnte mit einem Pflug bestellt werden, was der Arbeitskraft einer Familie entsprach). Sie waren Hörige (d.h. von der Grundherrschaft abhängig) und mit 2 Gespannen dienstpflichtig.

9 Halbspänner oder Halbhufer: Sie bewirtschafteten 12 – 24 Hektar Ackerland und waren mit einem Gespann zum Pflügen oder für Fuhrdienste dienstpflichtig. Außerdem mussten sie Abgaben in Geld oder Naturalien an die Grundherrschaft leisten.

13 Köthner oder Kotsassen: Sie bewohnten einen kleinen Kotten (eine kleine Kate) mit wenig Land. Für die Überlassung des Hauses und des Grundstücks mussten sie an den Grundherren Zinsen in bar und in Naturalien zahlen und Hand- und Spanndienste leisten (z.B. bei der Ernte helfen).

1 Halbköthner: Mit noch weniger Land.

11 Brinksitzer oder Häusler: Sie besaßen ein eigenes Haus, konnten aber von dem wenigen eigenen Land nicht leben. Sie waren Handwerker, Tagelöhner, Dienstboten oder Hirten.

10 Anbauern: Sie waren Kleinbauern mit wenig Land und wenig Vieh. 

Die Einwohnerzahl stieg in Groß Giesen von 319 Einwohnern im Jahr 1821 auf 872 Einwohner im Jahr 1939 und auf 1.982 Einwohner im Jahr 1964. Das erste Bevölkerungswachstum ist der Industrialisierung (Kaliwerk) zuzuschreiben. Der letzte Anstieg erfolgte durch den Zustrom an Evakuierten und Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg (1949 wohnten 217 Evakuierte und 749 Flüchtlinge sowie 908 Einheimische in Groß Giesen). Entsprechend hoch waren die Einquartierungen in den Häusern. 


Zu den Vertriebenen gehörten auch meine Mutter und ihr Vater, die aus ihrer Heimat Löwenberg in Schlesien in Güterwagons nach Harsum gebracht worden waren. Von dort kamen sie nach Klein Giesen, wo sie im Elternhaus meines Vater einquartiert wurden. In einer fensterlosen Kammer mit einem Bett. Willkommen waren die Flüchtlinge und Vertriebenen damals nicht. 

Heute hat die Ortschaft Giesen (Groß und Klein Giesen) 3.350 Einwohner, die Gemeinde mit allen Ortschaften insgesamt 9.730 Einwohner. 

Bis in das 19. Jahrhundert war die Landwirtschaft der Haupterwerbszweig der Giesener Bevölkerung. Neben den Landwirten gab es nur einige wenige Handwerker (hier für Groß Giesen):

Stellmacher Engelke, der hölzerne Räder und Wagen herstellte. Daraus entstand später eine Tischlerei.

Schmied Büsse, für das Beschlagen der Pferdehufe. Daraus entwickelte sich eine Landmaschinen-Werkstatt. Heute gibt es die nicht mehr.

Bäcker Jürgens, der mit einem Pferdewagen das Brot ausfuhr.

Schlachter Engelke, der später zugleich eine Gastwirtschaft mit einem Saal betrieb.

Krüge, Gastwirtschaften, gab mehrere. Zu meiner Zeit war es die Gastwirtschaft Heise (neben der Gastwirtschaft Engelke).

Gegen Ende des Jahrhunderts begann die landwirtschaftsnahe Industrialisierung. 1867 wurde die erste Molkereigenossenschaft in Groß Giesen gegründet (Molkerei Wiechens). 1890 gab es 9 Zuckerfabriken im Gebiet des heutigen Landkreises Hildesheim (aber keine in Giesen).

 

Eine Zuckerfabrik wurde nicht in Giesen, sondern 1886 in Hasede gebaut. Sie wurde als Aktiengesellschaft gegründet und war damals die kleinste in Deutschland. In den 60 Jahren des Bestehens hat sie nie Dividende gezahlt. Wahrscheinlich waren die Aktionäre Rübenbauern, die mit der Zuckerfabrik den Absatz ihrer Ernte sicherten. 1948 ging die Aktiengesellschaft in Konkurs.

 

Auch in Hasede ist die Große Mühle ansässig. 1277 wurde sie als bischöfliche Mühle erstmals erwähnt. 1744 kaufte die Familie Engelke die Mühle. Heute gehört sie (mit Mühlen in Magdeburg und Müllrose in Brandenburg) zu den größten und modernsten Mühlen Deutschlands.

Eine weitere Mühle war ab dem 13. Jahrhundert an der Innerste zwischen Hasede und Klein Giesen, die Kleine Mühle. Sie hat 1983 ihren Betrieb eingestellt.

 

Die Firma Martin Pfeil Trawid GmbH (Hasede) stellt moderne Elektronik- und Mechanik-Geräte her und testet sie für Dritte. Seit 1965 war das Unternehmen an 30 wissenschaftlichen Raumfahrtprojekten beteiligt.

 

Die Mettler-Toledo Garvens GmbH (Hasede) ist ein weltweit führender Anbieter dynamischer Kontrollwaagen.

 

Die Firma Völsing (Hasede) gehört zu den größten Urnenherstellern Europas. Neben der Urnenfertigung wird auch ein Krematorium betrieben.

Völsing und Mettler-Toledo sind in dem Gebäude bzw. auf dem Gelände der ehemaligen Haseder Zuckerfabrik angesiedelt. 

Der größte Industriebetrieb entstand 1909 mit dem Kaliwerk Siegfried-Giesen in Groß Giesen und Ahrbergen. Damit entstanden Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft. 


Mein Vater (Jahrgang 1911), der nach der Volksschule Pferdeknecht auf einem Klein Giesener Bauernhof wurde, konnte im Kaliwerk zunächst als Untertage-Lockfahrer und später als Bergmann arbeiten. Auch einer meiner Onkel war Bergmann. 

Im 2. Weltkrieg wurde im Ahrberger Teil der Schachtanlage eine unterirdische Munitionsfabrik aufgebaut.

1970 wurden die zu den Burbach-Kaliwerken gehörenden Schachtanlagen in die mit der Wintershall AG und der Salzdetfurth AG gegründete „Kali und Salz GmbH“ eingebracht. 1974 wurde die Fördermenge von 2 Millionen Tonnen Kalisalz überschritten.

1987 wurde die Förderung eingestellt. Bis 1999 wurde noch Versatz (ausgelaugtes Salz zur Auffüllung der Hohlräume) eingebracht. Im Jahr 2000 wurden die Fabrikanlagen abgebaut.

Als neueste Entwicklung wurden in den letzten Jahren Vorbereitungen zur Wiederaufnahme der Kaliförderung getroffen. Ob und wann wieder Kali gefördert wird, ist völlig offen. 


Das Giesener Bergwerk förderte im Sarstedter Salzstock. Er ist einer von 200 Lagerstätten in Norddeutschland.

Das Salz ist vor 260 Millionen Jahren durch Verdunstung von Meerwasser entstanden. Später wurde die Salzschicht durch Ablagerungen überdeckt. Die Schichten liegen in 3.000 Meter Tiefe. Durch Deformation des Deckgebirges sind Salzschichten in die Nähe der Erdoberfläche gekommen. Der Sarstedter Salzstock liegt in einer Tiefe (bergmännisch als Teufe bezeichnet) von 120 bis 150 Metern.

Aus den in Giesen geförderten Salzen wurde Kali als Dünger für die Landwirtschaft gewonnen (die Salze haben in Giesen ein Reinkali-Gehalt von 12 %). Der Rest des geförderten Salzes wurde als Versatz wieder in den Schacht zur Verfüllung der Hohlräume gebracht. Da das aufbereitete Salz weniger verdichtet ist als das Untertage abgebaute Salz, musste ein nicht unerheblicher Teil Übertage gelagert werden. Dadurch ist der Giesener Salzberg entstanden.

 

 Bedeutende Giesener

Zwei Giesener Bürger verdienen eine Erwähnung. Das sind Hermann Schnipkoweit und Heinrich Biermann. 

Hermann Schnipkoweit (1928 – 2018) war von 1976 bis 1990 in der Niedersächsischen Landesregierung von Ernst Albrecht Sozialminister. Als Sohn eines Landarbeiters begann er wie viele Giesener eine Ausbildung zum Bergknappen und wurde Bergmann. Von 1963 bis 1990 war er Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag. 


Ich habe Hermann Schnipkoweit viele Jahre begleitet. Er war von 1968 bis 1985 Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Hildesheim, dem ich ab 1974 zunächst als Kreisvorsitzender der Jungen Union und danach als Beisitzer bis 1983 angehörte. Wir kamen aus dem gleichen Dorf und wir waren entfernt verwandt (was in einem kleinen Dorf nicht ungewöhnlich ist). Seine Mutter (geb. Schiweck) war eine Schwester der Frau meines Onkels (Franz Wirries). 

Heinrich Biermann (1938 – 2003) folgte Hermann Schnipkoweit als Landtagsabgeordneter (1990 bis 1994) und als CDU-Kreisvorsitzender. Nach einer Tischlerlehre und Gesellentätigkeit und dem Besuch der Abendoberschule studierte er an der Fachhochschule Hildesheim. Ab 1972 war er Mitglied des Hildesheimer Kreistags und hier von 1978 bis 1991 Erster stellvertretender Landrat. 


Auch ihn habe ich gut gekannt. Viele Jahre waren wir gemeinsam politisch tätig. Ich erinnere mich noch an seinen politischen Start 1972. Die Junge Union Giesen hat ihn damals mit einer Plakatwerbung „Junge Union für Biermann“ unterstützt. Diese persönliche Werbung hat nicht allen in der CDU gefallen, aber er kam mit einem hervorragenden Wahlergebnis in den Kreistag.

Die Informationen stammen meist aus Wikipedia- und anderen Artikeln im Internet, ohne Zitierung im Einzelnen. Die Informationen über die früheren Giesener Grundeigentümer stammen aus der "Die Bauern von Giesen" von Katharina Schrader.


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